
Szenen einer Eheschließung 4
Vanessa hatte nur ein einziges Ziel: den Bozener Waltherplatz zu überqueren und so schnell wie möglich zum Bahnhof zu kommen. Sie wollte nicht hier sein, sie wollte ihm nicht über den Weg laufen. Nicht noch einmal in sein Gesicht sehen und daran erinnert werden, wie sehr sie ihn verachtete. Michael, allein wenn sie seinen Namen hörte, bekam sie Hautausschlag und Magenkrämpfe.
Sie kämpfte sich durch die Menschentrauben, die sich vor den Weihnachtsbuden angesammelt hatten und die Auslagen betrachteten. Leuchtende Kinderaugen, Frauen, die entzückt an weichen Wollsocken rieben und sich eine selbstgestickte Tischdecke nach der anderen vorführen ließen. Männer, die an selbstgebrannten Schnäpsen rochen und ihre Kinder auf den Arm nahmen, damit sie im Gewühle nicht verlorengingen. Wieder Kinder, die ihre Eltern anbettelten, Pony reiten zu dürfen. Geruch von Speck, geschmolzenem Käse, Gebäck und Glühwein. Alles auf einmal. Und dann wieder der Gedanke an Michael – Vanessa wurde beinahe übel.
Sie kämpfte sich weiter, sie hatte es bereits in die Nähe des riesigen Weihnachtsbaumes geschafft. Es war drei vor fünf, in zehn Minuten würde ihr Bus kommen.
„Vanessa?“, rief eine Stimme hinter ihr. Sie konnte ihr Pech nicht fassen. Sie drehte sich um und starrte in Michaels Gesicht, während der Chor „Adeste fidelis“ einstimmte.
„Was willst du noch?“, schnauzte sie ihn an. Dass er auch nie aufgeben wollte, sie wütend zu machen.
„Vanessa, ich will dir nur sagen, dass ich dich liebe.“
„Was soll ich dir denn darauf antworten?“
„Naja, wie wäre es mit einem ‚Ich liebe dich auch‘?“
„Sorry, Michael, ich weiß, es ist bald Weihnachten, du fühlst dich einsam, aber du kannst deshalb nicht von mir verlangen so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Das funktioniert so nicht!“
„Und wie funktioniert es dann?“
„Das weiß ich doch nicht. Lass mich in Ruhe, ich muss zum Zug.“
„Vielleicht funktioniert es ja so: Ich liebe es, wenn du mich so ansiehst, als wäre ich komplett durchgeknallt. Ich liebe diese Falte, die dabei auf deiner Stirn entsteht. Ich liebe deine Art, dich wie ein Punker zu kleiden und wie eine Diva zu schminken. Ich liebe deinen Duft, ich liebe deine Bewegungen, ich liebe deine Ausdrucksweise. Du bist der einzige Mensch, mit dem ich abends einschlafen will und morgens aufwachen. Du bist die Einzige, die ich küssen würde, auch wenn du die schlimmste Grippe der Welt hättest. Ich will mein Leben mit dir verbringen, kapierst du das jetzt endlich? Und das hat überhaupt nichts mit Einsamkeit oder Weihnachten zu tun.“
„Siehst du, Michael? Das ist genau der Grund, warum ich dich hasse: weil du es mir unmöglich machst, dich zu hassen. Und ich will dich hassen! Ich kann dich einfach nicht ausstehen, nach all dem, was im letzten Jahr passiert ist.“
„Vergiss doch endlich einmal die Vergangenheit, Vanessa. Ich will dich doch nur heiraten, es ist doch nur für den Rest deines Lebens.“
Vanessa stiegen die Tränen in die Augen, die gelben Lichter des Weihnachtsmarktes verschwammen vor ihren Augen. Der Chor sang in den höchsten Tönen „Stille Nacht“, als Michael sie in die Arme schloss und sie ihm noch einmal liebevoll ins Ohr flüsterte, wie gerne sie ihn nun zum Mond schießen würde.
In der dritten „Szenen einer Eheschließung“-Geschichte wurde Simone Dark von „Die Reifeprüfung (The Graduate)“ inspiriert. Welche Filmszene hat sie in dieser kleinen Geschichte inspiriert? Die Lösung erfahrt Ihr in zwei Wochen!
Simone Dark, Jahrgang 1982, geboren in Freiburg (Deutschland), wuchs in einem Städtchen namens Breisach an der französischen Grenze auf. Sie ist Übersetzerin und (Thriller-)Autorin aus Leidenschaft. Bisher erschienen sechs Romane unter ihrem Namen. Wenn sie gerade einmal nicht Geschichten erfindet, kann sie auch sehr sportlich sein: sie wandert und schwimmt für ihr Leben gerne. Simone lebt seit einigen Jahren mit ihrem Mann in Südtirol.
