
24.04.2018 10:00
Wo sind Sie?
Liebe Anna,
ich muss gestehen, ich habe Sie gegoogelt. Ich habe herausgefunden, dass Sie hier in Südtirol eine eigene Stiftung haben. Hertzsolutions, wirklich ein gelungener Name. Nomen est omen, würden die Lateiner sagen. So eine wunderbare Sache, herzkranken Kindern zu helfen. Ich wusste ja nicht einmal, dass wir in derselben wunderschönen Region leben. Vielleicht sind wir am Ende auch noch Nachbarn oder kennen uns sogar? Wollen Sie mir nicht vielleicht verraten, wo sich Ihre Stiftung befindet? Im Internet habe ich leider keine Adresse gefunden.
Ich bin ein sehr neugierig, liebe Anna. Falls Ihnen meine Fragen auf die Nerven gehen, reicht ein Wort und ich werde Sie nie wieder stören.
Alex.
25.04.2018 9:00
Re: Wo sind Sie?
Lieber Alex,
ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Es ehrt mich, dass ich Ihre NeUgier geweckt habe. Und ja, ich habe den wUnderbarsten BerUf der Welt gewählt. Schade nUr, dass ich meine Tätigkeit bald aUfgeben werden mUss. Es ist einfach an der Zeit. Ich wünsche Ihnen alles GUte, lieber Alex. Sie haben mich nie gestört.
Anna
26.04.2018 8:24
Re: Re: Wo sind Sie?
Oh Gott, Anna. Endlich sind Sie wieder da. Ich habe mir ehrlich Sorgen um Sie gemacht. Nachdem Sie unter Ihrer alten Emailadresse nicht mehr erreichbar waren, habe ich nächtelang kein Auge zugemacht. Ich habe Sie und Ihr kleines U vermisst und mir das Schlimmste ausgemalt. Warum werden Sie Ihre Tätigkeit mit der Stiftung aufgeben? Die Kinder brauchen Sie doch! Tun Sie das nicht, Anna. Oder nur, falls Sie einen wirklich guten Grund dafür haben.
Mir ist übrigens aufgefallen, dass Sie in Ihrem Ichliebedich-Profil weder Ihr Alter angegeben hatten, noch irgendwelche Fotos von sich gezeigt hatten. Gab es hierfür einen Grund? Verzeihen Sie, ich beginne schon wieder, in Dingen zu bohren, die mich eigentlich nichts angehen. Aber irgendwie fühle ich mich Ihnen verbunden, Anna. Ich kann nicht anders. Ich möchte Sie kennenlernen.
26.04.2018 11:01
Re: Re: Re: Wo sind Sie?
Alex,
rUhig BlUt!
Sie möchten mich kennenlernen? Habe ich das richtig gelesen? Mich? Anna Hertz? Nein, das wäre nicht gUt. Sie wären zUtiefst enttäUscht.
Ich kann meine Arbeit nicht weitermachen. Es ist einfach an der Zeit. Nicht, dass ich es nicht wollte, aber ich schaffe es einfach nicht mehr. Es ist gUt so wie es ist. Ich habe eine würdige Nachfolgerin gefUnden, die bereits eingelernt wird. Machen Sie sich bitte keine Sorgen mehr, so ist er nUn einmal, der LaUf des Lebens. Ich werde mich nUn von Ihnen verabschieden, lieber Alex. Ich werde morgen Umziehen, ich werde mein ZUhaUse aUfgeben, Unter anderem aUch diesen dUmmen CompUter mit seinem Ungezogenen kleinen großen U. Ich werde nicht mehr erreichbar sein. Ich will ehrlich zU Ihnen sein, Alex. Mir bleiben noch etwa drei Wochen. Nicht mehr. Und diese drei Wochen will ich in meinem ElternhaUs verbringen. Man wird sich Um mich kümmern, dafür ist gesorgt. Keine Schmerzen mehr, nUr noch gUte LandlUft, Sonne Und blühende Wiesen. Das wUrde mir versprochen.
Ich Umarme Sie, Alex.
Ihre Anna.
An Frau Anna Hertz
Wiesenweg 7
Liebe Anna,
es war nicht einfach, Ihre Adresse herauszufinden. Man wollte mir in der Hertz-Stiftung nichts über Sie verraten, Ihr Personal ist wirklich sehr diskret und gut geschult. Ein Foto im Eingangsbereich hat mir dann verraten, wo Ihr Elternhaus steht. Das alte Schwarzweiß-Foto auf dem Ihre Eltern als Kinder zu sehen sind. Ich habe es lange studiert und bin dann dank meiner Eltern draufgekommen, wo dieses Haus ist. Tatsächlich wohnen Sie nicht weit weg von mir. Eigentlich muss ich nur ein paar Kilometer über die Landstraße fahren, um bei Ihnen zu sein.
Ich verstehe Ihre Anspielungen nicht. Sie behaupten, nur noch drei Wochen zu haben. Doch hoffentlich nicht zum Leben? Sie schreiben, dass Sie keine Schmerzen mehr haben werden, dass es Ihnen versprochen wurde. Was fehlt Ihnen, Anna? Ich bitte Sie, lassen Sie mich ein. Ich komme Sie besuchen, wir können auch nur ein Gläschen Wasser miteinander trinken, und sobald ich Ihnen lästig bin, gehe ich wieder.
Ich habe Ihnen noch nichts über mich selbst erzählt, Anna. Ich bin eigentlich ein stiller, besonnener Mensch. Ich gehe nicht oft aus, ich habe keine Freundin. Ich habe eine kleine Wohnung, ich besuche meine Eltern regelmäßig auf ihrem Hof. Das Hofleben fehlt mir ab und zu, aber es ist schon in Ordnung, ich kann schließlich mit Mitte dreißig nicht mehr bei Mama und Papa wohnen. Ich treibe viel Sport, am Wochenende wandere ich und fahre oft mit dem Fahrrad über unsere wunderschönen Pässe. Mein Aussehen kann ich schwer beschreiben, ich glaube, ich bin einfach nur ein ganz normaler Typ. Ein Meter fünfundsiebzig groß, dunkle Haare, dunkle Augen. Nicht zu dick und nicht zu dünn.
Ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beenden soll, liebe Anna. Jedes Wort scheint fehl am Platze. Ich beende ihn mit dem Wort HOFFNUNG. Mit der Hoffnung, von Ihnen eingeladen zu werden und Sie endlich persönlich kennenzulernen.
Bis bald
Ihr Alex
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Simone Dark, Jahrgang 1982, geboren in Freiburg (Deutschland), wuchs in einem Städtchen namens Breisach an der französischen Grenze auf. Sie ist Übersetzerin und (Thriller-)Autorin aus Leidenschaft. Bisher erschienen sechs Romane unter ihrem Namen. Wenn sie gerade einmal nicht Geschichten erfindet, kann sie auch sehr sportlich sein: sie wandert und schwimmt für ihr Leben gerne. Simone lebt seit einigen Jahren mit ihrem Mann in Südtirol.
simonedark.wordpress.com